Fachkräftemangel

Sonnhild Thiel von der DFG/VK Karlsruhe hat auf der Kundgebung am 1. Mai 2023 einen Aspekt jedes Krieges perfekt auf ihrem Schild zusammengefasst:

Die Waffen liefern die Reichen, die Armen liefern die Leichen.”

Kundgebung 1. Mai 2023 Karlsruhe Marktplatz

Die Anzahl der Verwundeten und getöteten Soldat:innen ist eines der großen Geheimnisse auch des russisch-ukrainischen Kriegs. Militärs und Regierungen lassen oft und gerne über die Verluste des Gegners berichten, die eigenen zu veröffentlichen wäre Verrat.

Es wird allerdings mit jedem Kriegstag schwieriger, die grausige Realität totzuschweigen: Zu viele Zivilist:innen werden in im persönlichen Umfeld mit der Realität von Kriegsverletzungen, Invalidität, Gefangenschaft und Tod konfrontiert.

Es muss immer häufiger, auch in der massiv zensierten russischen Presse, sowieso und mehr in den relativ freieren ukrainischen Medien, über medizinischen Versorgung und Rehabilitation von Kriegsversehrten, über Invaliden-, Witwen- und Waisenrenten geredet werden.

Was es noch nicht gab, wird schnell eingeführt. Was es nur rudimentär gab, wird aufgestockt und an die Erwartung der heutigen Generation angepasst. Im Krieg, wenn aus wehrtüchtigen jungen Männer hochdekorierte Schwerbehinderte werden, wird die Einrichtung von behinderungsgerechten Arbeitsplätzen zur patriotischen Unternehmens- bzw. Unternehmer:innenpflicht.

Solche Reformen ändern jedoch nichts daran, dass im zweiten Kriegsjahr die Armeen beider Kriegspartei massive Personalprobleme habe.

Über die russische Teilmobilmachung und die sonstigen Bemühungen, den militärischen Fachkräftemangel durch Rekrutierung von Söldnern in Strafanstalten und armen Regionen auszugleichen, wird in deutschen Medien relativ oft berichtet.

Dass viele Reservisten ins Ausland geflohen sind, z.B. nach Georgien und in die Türkei, wird auch gelegentlich erwähnt. Allerdings leider meist ohne den Hinweis, dass diese Kriegsverweigerer keine Chance auf Weiterreise in die EU und Asyl haben, eine humanistische Schande.

Weniger bis gar nicht kommt in den hiesigen Medien vor, dass auch in der Ukraine die Zeiten des begeisterten Ansturms der Freiwilligen auf die Rekrutierungsbüros lange vorbei sind.

Gerade wurde das Kriegsrecht mit Generalmobilmachung wieder verlängert und ZN.UA berichtet regelmäßig über den rechtlichen Rahmen und die Praxis zu diesem sehr abstrakten Begriff: Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land nicht verlassen und müssen jeden Wechsel ihres gewöhnlichen Aufenthaltsorts innerhalb von 7 Tagen melden. Sie können und werden derzeit in fast jeder Lebenslage – zuhause, am Arbeitsplatz, unterwegs auf öffentlichen Plätzen und in öffentlichen Verkehrsmitteln – hinsichtlich ihrer Berechtigung, nicht an der Front zu sein, kontrolliert und ggfs. zur Nachmusterung einbestellt.

Sowohl die relativ Regierungs-kritische ZN.UA als auch die Pro-Regierungs-Medien ukrainische Pravda und Ukrinform berichten außerdem regelmäßig über Korruptionsfälle in der Wehr- und Musterungsbürokratie (um die 10.000 Dollar kostet ein bis auf die Diagnose echtes Freistellungszertifikat) und andere Varianten, sich der Mobilmachung zu entziehen, mit mehr oder weniger Hilfe von daran etwas weniger gut verdienenden Helfer:innen.

Von der sportlichen Querfeldein-Nachtwanderung im Grenzgebiet über einen Einsatz als Hilfstransport-Lkw-Fahrer auf dem Rückweg bis zum relativen Komfort-Paket “Taxi+Fahrer+vermeintlich demente Seniorin im Rollstuhl+Zertifikat zur Behandlung begleitender Angehöriger” sind den Mobilmachungsunwilligen und ihren Helfer:innen viele Varianten eingefallen, rechtlich nicht vorgesehene Grenzübertritte dann doch möglich zu machen, für solvente Reisewillige. Und, siehe oben “, die Armen liefern die Leichen.”

Die Angst hinter dem Fachkräftemangel ist übrigens im August 2023 auch kein Geheimnis mehr. Wer einige Stunden auf dem YouTube-Kanal Телемарафон “Єдині новини” онлайн verbringt, wird irgendwann Werbespots sehen, für die noch weniger ukrainisch-Kenntnisse erforderlich sind, als ich sie mir in den letzten anderthalb Jahren angelesen habe. Die Bilder sprechen für sich:

  • Variante 1: Ein kleiner Junge hinter einer Bühne hinter einem Vorhang, mit Lampenfieber vor einem ersten Auftritt.
  • Variante 2: Ein kleiner Junge, dem ein bellender Schäferhund den Weg versperrt.
  • Blende. Ein starker junger Mann geht dann doch zum Militär und an die Front, denn Angst ist zum Überwinden da.

Sehenswert, ebenso wie einige andere Werbespots, über die ich erst ausführlicher schreibe, wenn ich ihren Text so gut verstehe wie den von Duck and Cover. Die Medien und die Ästhetik ändern sich, aber Kriegspropaganda bleibt Kriegspropaganda…


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