Ende der Vorkriegszeit

Kriegstüchtig sollen wir in Deutschland ja schon seit einer Weile sein, die finanzielle und technische Unterstützung für die Ukraine lässt sich spätestens seit dem Beginn der Eskalation am 24. Februar 2022 als Parteinahme im russischen-ukrainischen Krieg verstehen, irgendwie sind wir schon seit einer Weile Kriegspartei, aber jetzt schaltet die Bundesregierung hinsichtlich der Sprachregelung um auf offizielles Ende der Vorkriegszeit:

“Wir sind nicht im Krieg, aber wir sind auch nicht mehr im kompletten Frieden. Wir werden attackiert, hybrid, mit Desinformationskampagnen und eben durch Drohneneindringen.”

Verteidigungsminister Pistorius beim Treffen der Ost-Ministerpräsidenten

„Wir sind nicht im Krieg, aber wir leben auch nicht mehr im Frieden“

Bundeskanzler Merz bei einer Wirtschaftsveranstaltung

So, so, nun, nun. Wenigstens tun beide Politiker nicht überrascht: Wer jahrelang in einem Konflikt zwischen zwei Staaten klar für eine Seite Partei ergreift, darf sich nicht wundern, wenn er auch zum Ziel wird. So funktioniert Konfrontation.

Ist dieser noch nicht Krieg jetzt so ähnlich wie der in Europa kalte Krieg der vormaligen Block- und Systemkonfrontation bis 1991? Das suggeriert der Aufruf der Friedensvernetzung für die Demonstration am 3. Oktober in Stuttgart:

Demo 03.10.2025 Stuttgart Seite 1
Demo 03.10.2025 Stuttgart Seite 2

“Wir brauchen eine neue Entspannungspolitik für Europa, die die Friedens- und Sicherheitsinteressen aller Beteiligten berücksichtigt.” heißt es im Aufruf.

Diese Wortwahl suggeriert, der aktuelle russisch-ukrainische Konflikt wäre gleichzusetzen oder zumindest so ähnlich wie der Kalte Krieg, und also mit ähnlichen Strategien entschärf- und dann irgendwann beendbar.

Echt? Kalter Krieg, das war doch Blockkonfrontation zwischen zwei Systemen? Kapitalistischer oder marktwirtschaftlicher Westen gegen kommunistische Kader- oder Kommandowirtschaft im Ostblock. Westen, Ostblock, plus Blockfreie mit einem Schwerpunkt auf (frisch postkoloniale) Unabhängigkeit und unterschiedlicher Wirtschaftsorganisation.

Selbst unter Berücksichtigung der Möglichkeit, dass Russland nur als Stellvertreter (siehe Post Haushaltswochen) für die von einer kommunistischen Partei gesteuerte Volksrepublik China agiert, kann von einer vergleichbaren Systemkonfrontation heute keine Rede sein. Produktivkräfte, Produkte und Märkte sind im Zeitalten von Smartphone, E-Mobilität und Maschinellem Lernen (umgangssprachlich besser bekannt als Künstliche Intelligenz) so gründlich durchglobalisiert, dass sogar die beiden Hauptkontrahenten USA und China nicht so schnell von der anderen Seite unabhängig werden können, wie sie es für den Kriegsfall gerne wären.

So einfach wie im Kalten Krieg sind die Blöcke heute nicht unterscheidbar.

Das ist wichtig, denn egal ob kalter oder heißer Krieg: Jeder Konflikt braucht ein “wir” und ein “die”, jede Propaganda braucht Leitbilder. “Überholen ohne Einzuholen” als Motto der Kommandowirtschaften, mit dem die offensichtlich schlechteren Lebensverhältnisse ein bisschen zugegeben, die Hoffnung auf das bessere Morgen im Sozialismus aber nicht aufgegeben wurde, war vielleicht bescheuert, aber griffig. Ja, das Westpaket macht Spaß. Nein, wir sind trotzdem die Guten, und werden es noch besser haben.

Heute ist das alles nicht so einfach. Selbst die kommunistische Partei Chinas reitet oft mehr auf den Traditionen einer jahrtausendealten Kultur und den diese aktualisierenden Gedanken des Staatspräsidenten Xi Jinping herum als auf den Feinheiten des angewandten Marxismus-Leninismus. Ja, wir sind gute Kommunist:innen, mit Smartphone und Gig Economy. Nein, wenn wir das machen ist das kein Kapitalismus. Keine stabile Basis für zündende Slogans.

Der Westen ist bis auf die Osterweiterung der EU und Nato weitgehend der Westen geblieben, kulturell und hinsichtlich Frauen- und Minderheitenrechte leicht modernisiert, aber eine bruchlose Fortsetzung des Westens aus der Zeit des Kalten Kriegs.

Der damalige Ostblock und die damaligen Blockfreien haben sich wirtschaftlich grundlegend verändert und ideologisch neu aufgestellt. Es wird viel von “multipolarer Welt” gesprochen, und gemeint sind regionale Machtzentren, die kulturell und politisch ihre Einflusszonen dominieren (wollen) und sich auf (reale oder erdachte) regionale Traditionen “besinnen”. Ideologisch sind die entsprechenden Regierungen näher an den europäischen Nationalismen des 19. Jahrhunderts als an der Blockkonfrontation des 20. Jahrhunderts.

Wer friedliche Koexistenz und Wandel durch Annäherung unter den aktuellen Vorzeichen praktizieren will, muss andere Kompromisse eingehen als bei der Entspannungspolitik im Kalten Krieg.

Natürlich findet Alice Weidel von der AfD Putin nicht so gefährlich. Ideologisch hat das Institut Zarenburg einiges auf Lager, das sowohl europäischen Rechten als auch MAGA-US-Amerikaner:innen auf Anhieb eher gefällt. Ethno-religös reaktionär, migrant:innenfeindlich und vom einigen Volkskörper träumend – das ist doch lecker, oder? Wenn es keine Russ:innen (pfui, schon wieder diese verhasste Schreibweise) könnten mensch glatt von Zarenburg-Leute wählen.

Haben wir Friedensbewegte den Mut, die Kompromisse, die es unter anderem für eine Deeskalation im russisch-ukrainischen Krieg braucht, erst offen auszusprechen und dann auch diejenigen zu unterstützen, die sie eingehen wollen? Ich fürchte, sehr viel traditionell Friedensbewegte träumen lieber von Glasnost und Perestroika 2.