Die kleinen Konflikte

Seit 24. Februar 2022 verfolge ich ukrainische und russische Medien im Original, mit dem Ziel, die Perspektiven der Konfliktparteien zu verstehen, oder zumindest nachzuvollziehen. Dabei fallen mir immer wieder die Meldungen zu den “kleinen” Konflikten auf: Hier eine Straßenumbenennung, da eine Aufregung um einen Dozenten, der entgegen der Dienstanweisung auf russisch unterrichtet und mit einer russischsprachigen Prüfung “gedroht” hat, an einer Hochschule in einer vormals auch oder sogar mehrheitlich russischsprachigen Gegend, dort eine Bibliotheksbereinigung und heute die vom Gemeinderat in Kyiv beschlossene Enteignung eines Grundstücks, auf dem sich Google StreetView nach ein Ehrenmal für die Held:innen des II. Weltkriegs befindet.

Diese kleinen Konflikte hinter dem großen Krieg haben einen Kommentator auf ДЗЕРКАЛО ТИЖНЯ / ЗЕРКАЛО НЕДЕЛИ vor Kurzem zu der selbstkritischen Frage animiert: Was machen wir eigentlich, wenn wir die russisch besetzten Gebiete zurück erobert haben? Gehen wir wirklich davon aus, dass dort alle ihren Alltag auf ukrainisch umstellen werden? Wie wird das funktionieren?

Toll, dass so eine Frage in einem ukrainischen Medien gestellt wird, mitten im Krieg keine Selbstverständlichkeit. Toll, dass z.B. dieses Medium weiterhin zweisprachig erscheint. Das ist nicht selbstverständlich, z.B. Укрінформ hat diesen Service Anfang des Jahres eingestellt und erscheint in vielen Sprachen, aber nicht auf russisch.

Wenn ich höre, dass in der Ukraine europäische Werte verteidigt werden, würde ich mir wünschen, dass dazu eine gelassene Mehrsprachigkeit und regionale Autonomie nach belgischem Vorbild gehört. Danach klingen die Berichte über die vielen kleinen Konflikte nicht.


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